geschichte
Die Entstehung der Kinderfreunde

Anton Afritsch Gruppenbild
Anton Afritsch (erste Reihe links) mit seinen Pfeiferlbuben
Vom Fürsorgeverein zum politischen Erziehungsverband.
Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Geschichte der Kinderfreunde. Wir werfen einen Blick auf die Anfangszeit der Kinderfreunde. Sie beginnt 1908 mit der Gründung des Arbeitervereins Kinderfreunde in Graz und endet 1917 mit der Etablierung des Reichsvereins in Wien. Die Organisation entwickelt sich aus einer anfangs unpolitischen regionalen Fürsorgeorganisation zu einer staatsweiten Organisation und zu einem politischen Erziehungsverband.

Wir befinden uns am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die letzte Phase der Habsburgermonarchie ist geprägt von zahlreichen sozialen und ethnischen Auseinandersetzungen, Krieg, Hunger und Elend. Der Vielvölkerstaat liegt in seinen letzten Zügen. Angeführt wird er von einem alternden Kaiser, der sich erfolgreich allen Modernisierungstendenzen widersetzt und einer Aristokratie, die längst den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Doch noch während das alte System seinem Ende entgegen geht keimt neues auf.Schon Anfang des 19. Jahrhunderts war aus Taglöhnern, Handlangern und Gelegenheitsarbeitern eine neue verarmte Unterschicht entstanden - die Arbeiterklasse. 16-Stunden-Tage, Kinderarbeit, furchtbare Wohnverhältnisse, Krankheit, Armut, Elend und früher Tod sind keine Seltenheit und führen dazu, dass die Arbeiter sich organisieren - gegen starken staatlichen Widerstand. Letztlich sind sie aber damit erfolgreich: 1874 wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Doch die Probleme der Arbeiter sind noch lange nicht gelöst. Industrialisierung und Verstädterung gewinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich an Dynamik und die Probleme verstärken sich sogar. Die Einwohnerzahl von Graz wächst zwischen 1869 und 1910 von 98.000 auf 194.000. Das ist eine Verdoppelung innerhalb von 40 Jahren! Welche Auswirkungen das auf die Wohnungssituation gehabt haben muss, ist für uns heute schwer vorstellbar. Angesichts dieser Umstände konstatiert Anton Afritsch:
„In Graz wachsen mehrere Tausend Kinder heran, ohne das Notwendigste für ihren Lebensweg mitzubekommen. Sie sind Kinder der Straße, auf der Straße groß geworden und die Straße ist ihr Heim geblieben. Ihre Eltern sind schon froh, wenn sie die primitivsten leiblichen Bedürfnisse der Kinder befriedigen können. Mehr ist meistens nicht möglich. Die Zukunft dieser Kinder ist mehr als düster. Die Straße verlassen sie nur dann, wenn sie in Spelunken gehen. Im jugendlichen Alter unterliegen sie der kleinsten Versuchung, Arreststrafen werden zu Kerkerstrafen."
In diesem sozialen und politischen Umfeld entstehen die Kinderfreunde - als Fürsorgeverein für Straßenkinder. 1907 beginnt der gelernte Tischler und Redakteur der Parteizeitung „der Arbeiterwille" Anton Afritsch in Graz gemeinsam mit etwa 50 anderen Eltern Aktivitäten für die eigenen Kinder zu setzen. Am 26. Februar 1908 gründen sie den „Arbeiterverein Kinderfreunde". Im § 2 des Vereinsstatuts heißt es kurz und bündig: “Der Verein ist ein nichtpolitischer und stellt sich zur Aufgabe, das geistige und leibliche Wohl der Kinder zu fördern "
Die erste Aktivität des Vereins ab März sind Märchenabende, die man an Sonntagen für Kinder von fünf bis acht Jahren in Turnsälen organisiert. Die Erzählungen werden auch mit Lichtbildern illustriert. Es wird zwar kein Eintritt verlangt, aber nachdem der Platz begrenzt ist, haben Kinderfreundemit-glieder Vortritt. Afritsch schreibt in einem Bericht, dass diese Veranstaltungen dem Verein einige Hundert Mitglieder einbringen.
Ab Mai werden Ausflüge aufs Land organisiert. Der Verein schafft Spielsachen an, die sich einzelne Familien nicht leisten können -wohlgemerkt: es ist hier die Rede von Fuß- und Schleuderbällen. Dass Kinder in einer solchen Armut leben müssen ist in unserer Wohlstandsgesellschaft nur mehr schwer vorstellbar. Ab Sommer werden die Vereinsaktivitäten deutlich umfangreicher: Viermal pro Woche werden Landpartien veranstaltet, an denen an manchen Sonntagen in den Ferien bis zu 400 Personen teilnehmen.
Diese Landpartien - wie auch alle anderen Aktivitäten der Kinderfreunde - finden vor einem le-bensreformerischen Hintergrund statt: Auf sämtlichen Ausflügen herrscht strenges Alkoholverbot und Gasthäuser werden, soweit möglich, vermieden, denn es ist Ziel der Kinderfreunde, „[die] Kinder empfänglich zu machen für alles Gute und Schöne, veredelnd auf sie einzuwirken, sie zu guten Menschen zu machen, ihr jugendliches Gemüth empfänglich zu machen, ihre Bedürfnisse zu wecken für höhere Genüsse als den Trunk in rauchiger Wirtshausstube mit seiner Leib und Seele vergiftenden Atmosphäre [...]".
Nicht ganz so streng nimmt man es hingegen mit dem Rauchen. Ob das nun eher damitzu tun hat, dass die Arbeiterbewegung zu Beginn des Jahrhunderts sehr viel stärker gegen den Alkohol aufgetreten ist als gegen das Rauchen, oder aber damit, dass Afritsch selber ein starker Raucher war, soll im Moment ins Dunkel der Geschichte gehüllt bleiben...
Schon kurz nach dem gelungenen Start in Graz beginnt ein rasantes Wachstum. Schon nach zwei Jahren entsteht die erste Ortsgruppe in Floridsdorf. 1911 wird der niederösterreichische Landesverein gegründet und 1912 erscheint erstmals die Vereinszeitschrift „Der Kinderfreund". 1913 wird gemeinsam mit dem „Verein zur Bekämpfung der Tuberkulose in der Steiermark" die erste Kinderferienkolonie in Gratkorn veranstaltet. Im selben Jahr entstehen weitere Ortsgruppen in Niederösterreich, Kärnten, Salzburg, Böhmen, Mähren und Ungarn. 1914, am Beginn des Ersten Weltkriegs, umfasst der Verein bereits 4.350 Mitglieder in 18 Ortsgruppen.
Kurz vor dem Ende des Krieges, im Jahr 1917, kommt es zu einem wichtigen Schritt: Die bis dahin eigenständigen Organisationen „Alpenländischer Arbeiterverein Kinderfreunde" und „Arbeiterverein Kinderfreunde für Niederösterreich" schließen sich zum Reichsverein Kinderfreunde zusammen. Damit ist man erstmals auf gesamtstaatlicher Ebene organisiert.
Reichsobmann wird allerdings nicht der Gründer Anton Afritsch, sondern ein Vertreter des niederösterreichischen Zweigs der Organisation: Max Winter - eine schillernde Persönlichkeit der Sozialdemokratie, ein Sozialreporter und Wiener Abgeordneter, der später auch Stadtrat und Vizebürgermeister wurde und Gründer der ersten sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Österreichs ist.
Anton Afritsch wird sein Stellvertreter. Das ist ein Zeichen für ein geändertes Selbst Verständnis: Aus dem Selbsthilfeverein, der Fürsorgearbeit leistet, wird nun auch ein politischer Erziehungsverband. Damit beginnt eine neue Ära in der Geschichte der Organisation.
Winfried Moser